Stipendiatin Friederike Ortmann

Friederike Ortmann mit Zertifikat

Friederike Ortmann studiert International Humanitarian Action an der Ruhr Universität Bochum und wurde bezüglich ihres bevorstehenden Auslandsaufenthalts für das Vacasol Global Engagement Scholarship 2022 auserwählt. Sie wird im Wintersemester 2022/2023 am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai studieren. Für sie ist besonders die Inklusion von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft wichtig. Nach ihrem Studium an der Universität wird sie in Mumbai auch noch ein Praktikum bei einer Wohltätigkeitsorganisation aus dem Bereich der humanitären Hilfe absolvieren.

„Das Thema des inklusiven gesellschaftlichen Wandels ist für mich von großer Bedeutung und hat sich in den letzten Jahren nicht nur stark auf meine akademischen, sondern auch auf umfassendere persönliche und zukunftsleitende Entscheidungen ausgewirkt.“

Nach ihrem Bachelorstudium hat Friederike einen 18-monatigen Freiwilligendienst bei einer karitativen Gemeinschaft in Schottland absolviert. Und hat dort hautnah die Auswirkungen des Pandemieausbruchs erfahren.

„Mir ist klar vor Augen geführt worden, wie hoch das Risiko ist, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Bedürfnisse – besonders in Zeiten der Not und des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes-systematisch übersehen und vergessen werden.“

Genau das will Friederike mit Hilfe ihres Studiums ändern. Während ihres Auslandssemesters möchte sie sich dann vor allem der Frage der Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung widmen, ein Thema was auch später in ihrer Masterarbeit im Fokus stehen soll.

Wir wünschen ihr dabei viel Erfolg und freuen uns auf spannende Berichte und schöne Bilder!

Halbzeitbericht

Nun ist meine Ankunft in Indien bereits drei Monate her und ich kann es kaum glauben, dass die Hälfte meiner Zeit bereits verstrichen ist. Es ist so einfach, sein Zeitgefühl zu verlieren in einer Umgebung, die so intensiv ist wie Mumbai. Erst vor ein paar Wochen habe ich festgestellt, wie gut ich mich mittlerweile eingelebt habe. So gut, wie ich es am Anfang meines Aufenthalts nicht für möglich gehalten hätte.

Wenn ich gefragt werde, wie Mumbai ist, dann kommt mir immer das Wort ‚extrem‘ als erstes in den Sinn. Da ich vor Mumbai selbst nie für längere Zeit in einer wirklichen Großstadt gelebt habe, war ich zuerst schier überfordert von den endlos scheinenden Straßen, Häuserblocks, Gassen und Hütten. Mumbai ist nicht nur groß, sondern auch extrem laut und geschäftig, extrem dreckig und extrem divers. Das Einzige, was diese Stadt zum Stehen bringt ist der Verkehr, der jeden Morgen und jeden Abend für mehrere Stunden die Straßen so verstopft, dass ein Durchkommen unmöglich ist und man im wahrsten Sinne des Wortes schneller zu Fuß von A nach B gelangt.

Extrem ist die Stadt jedoch auch von ihren schönen Seiten - extrem bunt und lebendig, extrem inspirierend, extrem vielfältig und bereichernd. Der Campus des Tata Institute of Social Sciences ist eine kleine Oase im betongewaltigen Stadtteil ‚Chembur‘ im Osten der Stadt. Hier begegnen einem nicht nur viele streunende Hunde und Katzen, sondern auch vielerlei Vögel, Schmetterlinge, Raupen und auch Affen, die in den hohen Bäumen auf dem Gelände zu finden sind.

New Campus, Tata Institute of Social Sciences
New Campus, Tata Institute of Social Sciences
Monkey in a tree
Monkey in a tree

Aus der hektischen Stadt nach Hause auf den Campus zu zurückzukehren ist daher immer eine wahre Freude. Das Hostel in dem ich lebe ist recht spärlich eingerichtet. Ich habe ein Bett und einen Schreibtisch in meinem Zimmer, welche ich mir mit meiner Mitbewohnerin aus Finnland teile, ein Bad mit Dusche und westlicher Toilette, sowie eine kleine Spüle, einen Gaskocher und einen Kühlschrank.

Luxus ist etwas anderes, doch hier ist all das schon viel mehr als vielen meiner KommilitonInnen zur Verfügung steht, und gewöhnen tut man sich an erstaunlich viel. Der Großteil der Häuser auf dem Campus wirkt alt und heruntergekommen und selbst das neue Auditorium sieht aus als hätte es bereits Jahre hinter sich, dabei wurde es erst kurz vor dem Ausbruch der Pandemie eröffnet. Aber zwei Jahre Lockdown und vernachlässigte Pflege haben dafür gesorgt, dass es zurzeit nicht benutzbar ist.

Die anderen Vorlesungsräume sind nur spärlich ausgestattet mit einzelnen Stühlen an denen (wenn man Glück hat) eine kleine klappbare Oberfläche zum Schreiben angebracht ist, ähnlich, wie ich es zuvor nur aus amerikanischen High School Filmen kannte. In vielen Räumen stehen alte, kaputte Möbel oder Elektrogeräte, so auch in der Bibliothek, die verdächtig nach Schimmel und Moder riecht.

All diese „Entbehrungen“, als was ich diese Umstände aus meiner privilegierten Perspektive heraus wahrnehme, haben mich einen enormen Respekt vor allen Studierenden und Dozenten gelehrt. Die Anforderungen der Professoren sind sehr hoch und ich habe bereits im ersten Monat lernen müssen, trotz „mangelnder Ressourcen“ die gleiche Leistung zu erbringen wie in Deutschland, was nicht immer leicht ist, besonders dann nicht, wenn einmal wieder der Strom ausfällt, das WLAN nicht funktioniert, oder die Klimaanlage kaputt und es einfach zu heiß ist, um sich konzentrieren zu können.

Viele bürokratische Vorgänge dauern eine Ewigkeit und das Antworten auf E-Mails wird von niemandem so wirklich ernst genommen. Wenn man etwas erreichen möchte, dann muss man schon persönlich kommen und dann hoffen, dass das Büro auch tatsächlich zu den Öffnungszeiten besetzt ist.

Auch wenn der Einstieg in das Semester nicht so leicht war, was vielleicht auch daran lag, dass ich zehn Tage nach meiner Ankunft an Covid-19 erkrankte und die ersten 10 Vorlesungstage verpasste, so habe ich mich doch an erstaunlich viel gewöhnt. Viele der Dinge, die mir zu Beginn negativ aufgefallen sind, bemerke ich heute kaum noch.

Wenn nachts mal wieder der Strom ausfällt, weiß ich, welche Schalter ich drücken und an welchen Drähten des (offenen!) Stromkastens ich rütteln muss. Und wenn das Wasser knapp ist, dann duscht man eben morgens um vier, wenn sonst keine/r duscht. Woran ich mich auch gewöhnt habe, ist die Schärfe des Essens, und das ist eine echte Erleichterung, denn das Essen ist fantastisch! Vielleicht das Erste, was ich außerhalb Indiens vermissen werde. An jeder Ecke findet man fabelhaft gutes Essen, in jedem noch so kleinen Kiosk oder Restaurant, und Lebensmittel sind hier extrem erschwinglich.

Indian Food
Indian Food

Das Einzige, woran ich mich bis jetzt nicht gewöhnen konnte, ist die Armut, und die begegnet einem in Mumbai überall. Die Stadt ist geprägt von Extremen. Neben gläsernen Hochhäusern und Luxus Shopping Malls reihen sich die Slums und die schwarzen SUVs der Oberschicht manövrieren sich zwischen den Familien hindurch, die nachts auf den Straßen schlafen. Die Erfahrung ist keine erfreuliche, und ich fühle mich jedes Mal schlecht, wenn das alltägliche Leben vieler Menschen hier in Mumbai mich in Traurigkeit und Unglauben versetzt und das, obwohl ich selbst nur Zeuge der Verhältnisse werde. Die Erfahrung ist jedoch eine Wichtige, und ich bin froh, sie machen zu können.

Mumbai
Mumbai

Meine Kurse an der Universität helfen, teilweise Antworten auf viele Fragen zu finden, die sich mir beim Anblick der Wohlstandsunterschiede stellen. Ich habe bis jetzt nicht nur viel über das Land und seine BewohnerInnen, die politische Situation und über Verhältnisse extremer sozialer Ungleichheit, sondern auch besonders viel über das Feld der Disability Studies gelernt, besonders viel über die Erfahrungen von Menschen mit Behinderung in Indien, und darüber, wie in diesem Land damit umgegangen wird.

Ich kann so auch einen Einblick in die Arbeit der SozialarbeiterInnen vor Ort bekommen und sehen, wie die indische Gesellschaft Themen wie Rehabilitation und soziale Inklusion in Angriff nimmt, durch Community-Based Rehabilitation (CBR) und mit stark limitierten Ressourcen und wenig staatlicher Unterstützung.

Meine Kurse sind zwischen 2 bis 4 Stunden lang und sehr anspruchsvoll. Das System ist stark verschult, die Professoren werden mit ‚Ma’am‘ und ‚Sir‘ angesprochen, und Widerspruch oder Debatte entwickelt sich im Unterricht kaum. In den kommenden zwei Wochen stehen die Examen an und ich bekomme immer deutlicher die geringe Kapazität des Campus zu spüren, jetzt, da alle Studierenden gleichzeitig nach einem Platz zum Lernen und Arbeiten suchen.

Vor ein paar Wochen gab es einen Protest, der bewirkt hat, dass die Bibliothek jetzt bis vier Uhr morgens geöffnet hat, ein Angebot, welches tatsächlich von vielen Studierenden genutzt wird. Generell, gestaltet sich der Studierendenalltag anders, als ich es gewohnt bin. Die meisten Studierenden lernen bis tief in die Nacht, stehen dann aber auch erst gegen zwölf Uhr mittags wieder auf.

Ich musste mich erst daran gewöhnen, Lerntreffen für Gruppenarbeiten abends um elf zu beginnen, zu einem Zeitpunkt, an dem ich an guten Tagen auch schon einmal zu Bett gehe. Die Zusammenarbeit mit den indischen Studierenden stellte sich für mich tatsächlich als eine der größten Herausforderungen heraus. Zeit ist sehr relativ in Indien. Es ist normal und stört die wenigsten, wenn man schon mal eine halbe Stunde zu spät kommt und dann vorschlägt, erst einmal in die Mensa zu gehen, um zu Frühstücken. Oftmals wurden Treffen bis zu fünf Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt für vier Stunden nach hinten verschoben. Professoren sind da keine Ausnahme.

Das Wissen darüber, dass in Hindi die Worte ‚gestern‘ und ‚morgen‘ mit dem selben Ausdruck bezeichnet werden – ‚kal‘ – erklärt einiges, macht es einem jedoch nicht unbedingt immer leichter mit den enormen Unterschieden in Zeitgefühl und Arbeitsdisziplin umzugehen. Daran habe ich mich bis jetzt nicht gewöhnen können. Doch ich weiß zu schätzen, wie wichtig Erfahrungen wie diese sind, besonders im Hinblick auf mein zukünftiges berufliches Umfeld, in dem die Zusammenarbeit mit Menschen anderer Kulturen und Länder eine zentrale Rolle spielen wird.

Zwar habe ich noch nicht gelernt, mich nicht über die Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit anderer zu ärgern, doch weiß ich jetzt generell besser damit umzugehen, meine Arbeit flexibler zu gestalten und beharrlich in Arbeitsgruppen auf gute Kommunikation zu bestehen. Zwar ist die Arbeitslast gerade jetzt besonders groß, doch an freien Tagen oder Abenden genieße ich mit Freunden und KommilitonInnen auch die große Vielfalt an Zerstreuung, die Mumbai einem bietet. Von Ausflügen in die umliegende Landschaft über Museen, Shoppingtrips und Livemusik in den vielen Clubs der Stadt, langweilig ist es wahrlich nie.

Train in India
Train in India
Ausblick von der alten Festung in Panvel
Ausblick von der alten Festung in Panvel

Ich freue mich nun darauf, den theoretischen Teil meines Aufenthaltes bald abzuschließen, und mein Praktikum Mitte November beginnen zu können. Ja, die Hälfte meiner Zeit in Indien mag bereits verstrichen sein, doch ich froh mit Spannung auf drei weitere Monate voller Erfahrung und Inspiration blicke zu können und freue mich auf mein Praktikum und die Chance, meiner Forschung für die Masterarbeit besondere Aufmerksamkeit schenken zu können.

Abschlussbericht

Nach beinahe vier Monaten in Mumbai neigte sich das Semester am Tata Institute for Social Sciences Anfang November plötzlich sehr schnell dem Ende zu. Die Stimmung auf dem Campus wurde immer hektischer und besonders jetzt wurde die unzureichende Infrastruktur der Universität am deutlichsten. In der Bibliothek waren kaum noch Plätze zu ergattern, das Internet fiel beinahe täglich aus, und vor dem einzig funktionierenden Drucker bildeten sich jeden Tag lange Schlangen. Meine Klausuren waren von sehr unterschiedlicher Natur, die meisten bestanden jedoch darin, gelernte Inhalte als Antworten auf (mehr oder weniger spezifische) Fragen auswendig zu lernen und in der Klausur schriftlich wiederzugeben. Ich verbrachte also ein paar Wochen wieder mit der Auswendiglernerei, etwas von dem ich dachte es mit dem Bachelorstudium hinter mir gelassen zu haben.

Zu meinem Unglück fing ich mir in der letzten Woche der Prüfungsphase eine bakterielle Magenentzündung ein. Durch das viele Lernen zeitlich sehr beansprucht, dauerte es ein paar Tage, bis dass ich mich endlich dazu entschied, zum campuseigenen Health Center zu gehen und die dort praktizierende Ärztin aufzusuchen. Sie verschreib mir ein Antibiotikum, welches ich nach ein paar Tagen des Zögerns am Morgen meiner letzten Klausur doch begann einzunehmen, worauf es mir schlagartig besser ging. Ich bemerkte, dass ich aus mir unerkenntlichen Gründen kein großes Vertrauen in die Medikamente hatte, welche mir von der Universitätsärztin verschrieben wurden. Vielleicht lag es daran, dass ich kein Rezept ausgestellt bekommen hatte und lediglich mit einem Zettel zur Apotheke ging auf welchen sie mir handschriftlich die Namen der Medikamente aufgeschrieben hatte. Vielleicht aber auch daran, dass mir in der Apotheke selbst die Tabletten nur in ihrer Blisterpackung und quasi lose, in einer Plastiktüte zusammengesammelt, ausgehändigt wurden. Ich merkte, dass es mich Überwindung kostete zu vertrauen und ich fühlte mich merkwürdig ausgeliefert, hatte aber gegen Ende so große Schmerzen, dass ich die Medikamente doch einnahm. Als es mir schon Stunden später viel besser ging, kam mir meine vorherige Skepsis beinahe lächerlich vor.

Kurz nach Beendigung der Prüfungsphase bekam ich Besuch von meinem Freund aus Deutschland. Er hatte Indien ebenfalls noch nie besucht und es war spannend zu beobachten, wie er alles fürs erste Mal wahrnahm. In vielen Reaktionen sah ich mich selbst von vor vier Monaten. Manches, merkte ich jedoch, viel mir leichter als ihm, vielleicht weil ich wusste, dass ich mich an gewisse Dinge gewöhnen und sie akzeptieren musste, da ich eine längere Zeit in dieser Kultur verbringen werden würde als es bei ihm der Fall war. Eine Woche nach seiner Ankunft in Mumbai flogen wir gemeinsam für zwei Wochen nach Goa, in den Süd-Westen Indiens.

F.Ortmann - Palmengesäumte Straße in Bernaulim, Goa, Indien

Goa, eine ehemalige portugiesische Kolonie, ist sehr touristisch geprägt. Obwohl noch Nebensaison war, begegneten uns viel mehr ‚Weiße‘ als in Mumbai selbst. Wir wohnten in einer ruhigen umzäunten Nachbarschaft, einer Art Ferienhaussiedlung mit direktem Zugang zum Meer und nach dem Chaos der Stadt kam mir all dies unsäglich luxuriös vor. Es war sehr warm, die Luft als auch das Wasser, und es war eine ganz neue Erfahrung für mich Schwimmen zu gehen, ohne bereits nach fünf Minuten zu frieren. Früh morgens bevölkerten die Fischer den Strand und schoben ihre großen hölzernen Boote hinaus aufs Meer. Im Laufe des Tages traf man am Strand fast ausschließlich Touristen. Erst nachdem die Fischer vor Sonnenuntergang wieder an Land kamen, versammelte sich auch die einheimische Bevölkerung am Strand. Dort wurde um den Fang gefeilscht, am Strand entlang spaziert, oder den eigenen Kühen eine Abkühlung im Wasser ermöglicht.

F.Ortmann - Kuh mit Hörnern in Bernaulim, Goa, Indien

Das eigentliche Schwimmen im Meer war sehr restriktiert. Entlang des Strandes saßen in regelmäßigen Abständen Lifeguards, die genau darauf achteten, dass man nur in ihrer Sichtweite und bis zu den Knien ins Wasser ging. Um dem zu entgehen und tatsächlich ein paar Züge im Meer schwimmen zu können, machten wir es uns zur Gewohnheit, früh morgens, nach dem Ablegen der Fischer aber vor dem Dienstbeginn der Lifeguards, an den Strand zu gehen. Glücklicherweise begannen diese ihre Arbeit nie vor neun, und in typisch Indischer Manier etwa zwei Stunden später als auf der Webseite der Küstenwache angegeben. Wir besuchten außerdem oft die umliegende Natur und bewegten uns nord- und südwärts die Küste entlang, wo wir viele weitere kleine und größere Badeorte entdeckten,
in einem der Dörfer sogar eine kleine ‚German Bakery‘, die tatsächlich außergewöhnlich gute Zimtschnecken und Croissants verkaufte.

Mein Lieblingsort war jedoch der Cabo de Rama Beach, ein kleiner Strand versteckt in einer Bucht, die man nur zu Fuß erreichen konnte in dem man einem unscheinbaren Trampelpfad folgte, der steil den bewaldeten Hang vom eigentlichen touristischen Highlight, der Cabo de Rama Festung, hinabführte die wir besucht hatten. An jenem Nachmittag fühlten wir uns tatsächlich wie im Paradies.

F.Ortmann - Cabo De Rama Beach

So idyllisch alles auch war, ganz konnte ich meine Erfahrungen aus Mumbai während meines Urlaubs in Goa nicht vergessen und es war teilweise schwer sich in Erinnerung zu rufen, dass wir uns gerade einmal ein paar hundert Kilometer weiter südlich der Stadt befanden, und nicht etwa in einem ganz anderen Land. Trotzdem beschloss ich nach ein paar Tagen des Überlegens und der gedanklichen und moralischen Zerrissenheit die relative Ruhe und die vermeidliche Schönheit des Lebens an diesem Ort einfach zu genießen.

F.Ortmann - Sonnenuntergang am Sernabatim Beach

Nach meinem Urlaub in Goa war es bereits an der Zeit für mein Praktikum. Vor meiner zeitweiligen Abreise aus Mumbai wurde mir bereits von einer meiner Mentorin verdeutlicht, dass ich mir, anders als vorgesehen, meine Praktikumsstelle nicht selbst würde aussuchen können. Auch wenn ich die Gründe dieser Entscheidung verstand (es bedeutet vor allem einen geringeren Arbeitsaufwand für meine Mentorin und meine ständige Begleitung durch zwei meiner Kommilitoninnen), so war ich darüber sehr enttäuscht. Auch in Rücksicht auf die zwei Monate die noch kommen sollten denke ich, dass eine genauere Abstimmung der Interessen, Fähigkeiten und Einsatzwünsche nicht nur für mich, sondern auch für meine Einsatzstelle das Beste gewesen wäre.

Mitte November begann ich jedenfalls mein Praktikum bei der Yes I Can Foundation in Mumbai. Hierbei handelt es sich um eine relativ kleine lokale NGO, welche sich für die Belange von benachteiligten Menschen mit und ohne Behinderung im Raum Mumbai engagiert. Ich bemerkte schon früh, dass meine Sprachbarriere sehr groß war. Dadurch, dass ich kaum Hindi und kein Marathi sprach, konnte ich bei jeder zwischenmenschlichen Interaktion mit den Klienten, wie sie von der Organisation genannt wurden, lediglich die Rolle des Beobachters einnehmen. Die Rolle eines Beobachters jedoch, der die Wortwechsel zwischen den Personen nicht versteht und sich auf das beschränken muss, was er sieht.

Auch wenn es eine wichtige Lernerfahrung für mich war, so fühlte es sich maßgeblich enttäuschend an. Meine Kommilitoninnen gaben sich Mühe zu übersetzen so gut es ging, doch es gab viele Tage, an denen ich vor Langeweile und Frustration sehr wütend zum Campus zurückkehrte, mit dem Gedanken meine Zeit Stunde um Stunde verschwendet zu haben. Zu diesem Gefühl der Isolation kam hinzu, dass meine Vorgesetze, die Gründerin der Yes I Can Foundation selbst TISS-Alumni, lediglich mit meinen Kommilitoninnen kommunizierte und niemals mit mir direkt. Da wir für unsere Aufgaben viel unterwegs waren wusste ich abends vor dem Zubettgehen oft nicht, wann ich am nächsten Tag wo zu sein hatte, um was zu tun war. Dies bereitete mir Stress, denn ich bereitete mich gerne am Abend vorher so gut es ging auf den kommenden Tag vor. Auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt gut im Netzt der Local Trains in Mumbai auskannte, so waren diese so unberechenbar und chaotisch, dass ich meine Reisen für gewöhnlich vorzugsweise mit etwas Planungssicherheit antrat.

Zwei Wochen nach Beginn meines Praktikums kontaktierte ich meine Vorgesetzte mit der Bitte, mich in die WhatsApp-Gruppe hinzuzufügen, über die jegliche Kommunikation mit den Praktikantinnen lief, wie ich herausgefunden hatte. Doch selbst danach, und obwohl alle TeilnehmerInnen der Gruppe auf Englisch kommunizierten, schrieb meine Vorgesetze in jener Gruppe weiter über mich in der dritten Person, indem sie meine Kommilitoninnen dazu aufforderte mich hierhin oder dorthin mitzunehmen oder mir jene oder solche Aufgabe zuzuteilen. Zum Teil geschah dies auch in Gesprächen und Teambesprechungen, welche wir auf Englisch führten und bei denen ich meiner Vorgesetzen direkt gegenübersaß.

Trotz meiner Bitte, mich besser einzubeziehen, veränderte sich an dieser Situation nur wenig. Eine Erklärung dafür habe ich bis heute nicht gefunden und auch meine Kommilitoninnen, die es müde waren, unnötigerweise die Vermittlerinnen spielen zu müssen, konnten sich und mir dieses Verhalten nicht erklären.

Mit der Zeit fand ich aber heraus, wie ich nach und nach doch noch meinen Teil zur Arbeit der Organisation beitragen konnte. Ich begann etwa, die Medienpräsenz der NGO zu übernehmen und über das, was wir als Praktikantinnen taten, auf den diversen Sozialen Plattformen zu berichten. Dies war eine Aufgabe die mir nicht leicht viel, da ich zuvor selbst persönlich nur wenig Kontakt mit sozialen Medien hatte. Ich merkte jedoch auch, dass meine Arbeit tatsächlich von Wert für die Organisation war, anders als meine limitierten Beobachtungsversuche es sein konnten, die maximal mit persönlich nutzten.

Meine Kommilitoninnen und ich verstanden es nach und nach besser, unsere Aufgaben so untereinander zu verteilen, dass jede in etwa gleich am Arbeitsprozess beteiligt war, auch wenn die
meiste Arbeit aufgrund meiner Sprachbarriere nach wie vor von meinen Kommilitoninnen übernommen werden musste. Konkret sah dies in etwa so aus, dass ich zumeist Aufgaben der Recherche übernahm und Veranstaltungen wie etwa Kurse oder Aktionen vorbereitete, die meine Kommilitoninnen dann durchführten oder anleiteten, unter meinem Beisein zwar, doch meist in Hindi
oder Marathi.

F.Ortmann - Beim Praktikum mit Kindern und Kommilitoninnen

Erst gegen Ende meines Praktikum bot sich mir die Chance, etwas mehr mit den Menschen zu interagieren. Von unserer Mentorin bekamen wir den Auftrag, eine kleine Studie zu verfassen, welche der Weiterentwicklung des Serviceangebots der Yes I Can Foundation für ihre Klienten mit Behinderung dienen sollte. Dies bedeutete, dass wir Interviews führen mussten um Bedürfnisse, Kapazitäten, Potenziale und Möglichkeiten der Serviceverbesserung zu identifizieren. Unter unseren Teilnehmern befanden sich drei Personen, die die englische Sprache beherrschten, und so konnte ich immerhin drei unserer Interviews vollkommen selbstständig durchführen.

F.Ortmann - Beim Interview mit Lata Chopra

Je länger ich mich im Praktikum befand, desto besser erhielt ich einen Einblick in die Arbeits- und Wirkungsweise der Yes I Can Foundation, und was ich entdeckte, traf mich zumeist tief. Generell bekam ich immer mehr den Eindruck, dass es der Organisation an wahrer Rechenschaftspflicht fehlte. Einmal veranstalteten wir ein Mobilitätstraining für Menschen mit Sehbeeinträchtigung in einer Gemeinde etwas außerhalb Mumbais. Am Tag der Veranstaltung erschienen trotz weiter Bekanntmachung des Kurses nur zwei TeilnehmerInnen, woraufhin unsere Vorgesetze den Workshop absagte. Es stellte sich heraus, dass sie uns einen Kurs hatte vorbereiten und organisieren lassen, der mit gleichem Inhalt bereits ein halbes Jahr im Voraus in derselben Gemeinde angeboten worden war. Obwohl der Kurs
schlussendlich ausfiel, beauftragte sie meine Kommilitonin, ihr ein Foto zu senden auf dem ich zu sehen war, wie ich dem Trainer des Workshops ein Geschenk zum Dank seines Kommens überreichte, damit sie es in den sozialen Medien posten konnte.

Eine ähnliche Situation ergab sich, als sie mich auf eine 70-minütige Zug- und Rikscha-Reise queer durch Mumbai schickte, um die BewohnerInnen einer Seniorenresidenz für zehn Minuten zu besuchen, bevor sie mich und meine Kommilitoninnen für ein Meeting in den nächstgelegenen Starbucks zitierte, jedoch nicht ohne mich vorher daran zu erinnern ein Foto mit den älteren Herrschaften zu machen und ihr zu senden – und dabei bitte nicht zu vergessen den Anstecker mit dem Logo der Organisation zu tragen und ihn ebenfalls den BewohnerInnen der Residenz anzustecken.

Durch diese und weitere ‚Vorfälle‘ geriet ich zunehmend in moralische Zwickmühlen. Etwa ergab es sich, dass wir den erfolgreichen Abschluss eines Kurses zur Arbeit mit und Pflege von Personen höheren Alters feierten. In diesen Kurs waren meine Kommilitoninnen und ich zwar nur gegen Ende hin marginal involviert gewesen, sollten jedoch die Abschlussfeierlichkeiten dazu planen. An jenem Tag waren wir daher ebenfalls persönlich bei der Zertifikatsübergabe und den Feierlichkeiten dabei. Nun kam meine Vorgesetzte auf mich zu und bat mich, vor den versammelten TeilnehmerInnen, SponsorInnen und KursleiterInnen, eine Rede zu halten, mich vorzustellen, allen zu ihrem Erfolg zu gratulieren, und ihnen mit den besten Wünschen für die Zukunft ihr Zertifikat zu überreichen – natürlich nicht, ohne vorher mit jedem/r AbsolventIn ein Foto gemacht zu haben.

Ich verstand wirklich nicht, warum ich, die ich zum Gelingen des Kurses kaum etwas beigetragen hatte, diese Aufgabe übernehmen, und mich als ‚besonders wichtig‘ darstellen sollte, was diese Aktion in meinen Augen übermittelte. Schließlich hinterfragte ich diese Entscheidung und fragte meine Vorgesetzte, warum meine Kommilitoninnen sich denn nicht ebenfalls vorstellen, und ob sie nicht vielleicht die Rede übernehmen sollten, da viele TeilnehmerInnen bekannterweise weder Hindi noch Englisch sprachen. Trotz Argumentation blieb es dabei, dass ich diese Aufgabe übernehmen musste. Abgesehen davon, dass ich nicht gerne vor vielen Menschen spreche, war es mir unangenehm dort zu stehen und eine Wichtigkeit und ein Ansehen verliehen bekommen zu haben, welches ich nicht verdient hatte.

Mit dem Verlauf der Feierlichkeiten jedoch bemerkte ich auch, wie viel es den meisten TeilnehmerInnen bedeutete, dass ich an ihrer Zeremonie teilnahm und ihnen ihre Urkunde überreichte. Viele baten mich auch nach dem offiziellen Ende der Zeremonie, mit ihren eigenen Telefonen oder denen von Freunden, ein Foto mit mir und ihrer Urkunde machen zu dürfen. Auch wenn mir diese ungerechtfertigte Wertschätzung, welche sich einzig und allein auf mein äußeres Erscheinungsbild begründete, zutiefst unangenehm war, merkte ich, dass ich den TeilnehmerInnen und ihrem Abschluss mit meiner Anwesenheit eine in ihren Augen höhere Geltung und Glaubhaftigkeit verlieh - ein Gedanke, der auch nach so vielen Wochen noch so falsch klingt, und den niederzuschreiben es mir nicht möglich ist, ohne dass ich das Bedürfnis verspüre eine anderen Erklärung zu finden, eine, die in meinen Augen gerechtfertigt sein kann.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich fachlich betrachtet vielleicht nicht besonders viel gelernt, jedoch unglaublich viel erlebt habe. Vor allem habe ich jedoch persönlich dazugelernt. Auch wenn ich im Rahmen unserer kleinen Studie ein wenig Forschung betreiben konnte, so bin ich doch etwas davon enttäuscht, dass ich meinem Forschungsziel, anders als vorgesehen, im Rahmen meines Praktikums nur minimal nähergekommen bin. Für mich war klar, dass ich nach der offiziellen Beendigung meines Praktikums auch nicht weiter mit der Yes I Can Foundation arbeiten möchte. Es war tatsächlich keine besonders angenehme, aber trotzdem eine sehr wichtige Erfahrung von einigen der Rechenschaftsprobleme, von denen ich zuvor nur in der akademischen Literatur über humanitäre Hilfe gelesen hatte, persönlich Zeugin zu werden. Zeit für ein zweites Praktikum blieb mir aber leider auch nicht, da ich ein begrenztes Visum hatte, und die Arbeit an meiner Masterarbeit bereits aufnehmen musste.

Eine weitere neue Erfahrung, von der ich berichten möchte, ist die Weihnachtszeit. Da ich aus einer katholisch geprägten Familie komme, bedeutet mir Weihnachten viel, wenn es auch heute nicht mehr des Glaubens, aber vor allem der Traditionen und Rituale wegen ist, welche mir sehr am Herzen liegen. Auch wenn viele Menschen in meinem Umfeld meinen es sei übertrieben, beginne ich bereits im November Weihnachtsmusik zu hören. Normalerweise führt das bei mir sehr schnell zu einer richtigen Vorfreude auf Weihnachten. In Indien allerdings funktionierte das gar nicht.

Zwar war auch auf den Straßen ab und zu immer mehr Weihnachtsdekoration zu sehen, doch selbst im Dezember öffnete ich jeden Tag eine Tür in meinem Postkartenkalender ohne groß Weihnachtsstimmung zu verspüren. Vielleicht lag es einfach daran, dass alles so anders war, nicht nur das Wetter. Anfangs störte es mich leicht, doch bald beschloss ich, dem ganzen nicht mehr zu viel Bedeutung zu schenken. Natürlich war es noch einmal schwer, meine Familie vereint unter dem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer meiner
Eltern zu sehen, doch es war nicht das erste Mal, dass ich Weihnachten nicht in Deutschland verbrachte. Es war jedoch das erste Mal, dass ich es kaum feierte. Da wir über Weihnachten ein paar Tage frei hatten verbrachte ich diese mit einem indischen Kommilitonen und Freund in seiner Heimatstadt Kalkutta, was ebenfalls eine gute Ablenkung darstellte.

F.Ortmann - Haus und geschäftige Straße in Kalkutta
F.Ortmann - Sonnenuntergang zu Weihnachten in Kalkutta

Nach Beendigung meines Praktikums näherte sich das Ende meines Aufenthalts in immer rasanterem Tempo. Nach meinem letzten Arbeitstag blieben mir noch zwei Wochen, in denen ich meinen Praktikumsbericht verfassen, und eine Abschlusspräsentation halten musste. Jene Präsentation gestaltete sich tatsächlich noch einmal sehr ‚indisch‘, aber dennoch schön. Obwohl mir erklärt wurde, es würde streng auf das Zeitlimit von 20 Minuten geachtet, wurde ich währen meinen Vortrag unterbrochen als erst Tee und dann Sandwiches in den Konferenzraum geliefert wurden und meine Mentorin mich mitten im Satz unterbrach und meinte, wir sollten eine Pause einlegen.

Als ich nach etwa 15 Minuten meine Präsentation fortsetzte, wurde ich nach 5 Minuten abermals unterbrochen, da die im Raum anwesenden Personen lautstark überlegten, wo sie die Abfälle unserer kleinen Mahlzeit am besten loswerden könnten. Schließlich standen ein paar meiner ZuhörerInnen auf und verließen den Raum, um die leeren Papierteller und Becher hinaus auf den Flur zu bringen. Versucht, dies nicht als Unhöflichkeit aufzufassen, denn ich war sehr verunsichert, musste ich beinahe lachen. Ich hatte ebenfalls bemerkt, dass eine meiner Professorinnen, die für die Benotung meiner Präsentation verantwortlich war und dem Vortrag online folge, nach etwa zehn Minuten ihre Kamera ausgeschaltet hatte, und dass der Vertreter des International Office, der ebenfalls per Zoom zugeschaltet war, in ein Gespräch mit einem Mitarbeitenden vertieft war.

Auch wenn ich die ganze Situation etwas befremdlich fand, nahm es mir viel meiner Anspannung und ich freute mich beinahe über eine letzte sehr Indien-typische Begebenheit von der ich zu Hause würde berichten können. Gegen Ende Januar musste ich mich von Mumbai und Indien verabschieden. Viele meiner ausländischen KommilitonInnen waren bereits abgereist, wenn nicht ganz außer Landes, dann wenigsten aus der Stadt, und so viel mir der Abschied etwas leichter. Trotzdem war es schwerer als gedacht. In den letzten Tagen vor meiner Abreise versuchte ich noch so viele Dinge wie möglich zu tun von denen ich wusste, dass ich sie in Deutschland so nicht wieder erleben würde.

In meinem Lieblingsrestaurant mit den Händen essen, in der Rikscha zum Strand fahren, frisches Kokosnusswasser an der Straßenecke zum Bahnhof kaufen, mit dem Local Train nach Bandra fahren und dabei an der Türöffnung stehen und mir den (zugegebenermaßen etwas versmogten) Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen. Gemeinsam mit meiner Zimmergenossin verließ ich an einem Montagmorgen für ein letzten Mal den Campus und wir fuhren gemeinsam zum Flughafen, von dem es für mich mit einem Zwischenstopp in Bahrain nach Frankfurt, und für sie weiter nach Vietnam gehen würde. Ähnlich wie es mir schon bei meinem Hinflug ergangen war konnte ich nur schwer begreifen, dass ich Indien nun wieder verlassen und nach Deutschland zurückfliegen würde.

Am Gate angekommen merkte ich wie traurig ich war. Natürlich war nicht immer alles schön und einfach gewesen, doch ich merkte wie ich dem Leben nachtrauerte, welches ich mir aufgebaut hatte, und auch den Freundschaften, die ich geschlossen hatte. Ich fühlte mich nicht dazu bereit, mich wieder an das Leben in Deutschland anpassen zu müssen, obwohl dies vermutlich viel schneller gehen würde als meine Akklimatisation in Indien, und es wirklich ein paar Dinge gab, auf die ich mich wirklich freute (ein weiches, warmes Bett zum Beispiel, oder frische kühle Winterluft).

Ich landete früh morgens in Frankfurt und das erste, was mir auffiel war die unglaubliche Leere. Es fühlte sich beinahe gespenstig leer an und alles war so sauber und geordnet, allerdings auch sehr grau. Ich kaufte mir eine Laugenbrezel beim Bäcker und wartete auf meinen Anschlusszug. Als dieser in den Bahnhof einfuhr bemerkte ich, dass ich plötzlich sehr gestresst war. Die wenigen Menschen, die aus- und einstiegen bewegten sich so langsam und die Türen öffneten sich im Schneckentempo. Erst als ich selbst den Zug betrat rief ich mir in Erinnerung, dass dieser erst dann ab abfahren würde, wenn alle Passagiere eingestiegen, und die Türen sicher geschlossen waren, und nicht bereits nach 15 kurzen Sekunden schon, wie es in Mumbai der Fall war.

Auch im Zug war ich erstaunt von der Weite. Ich hatte einen eigenen Sitzplatz und alles erschien mir so unglaublich geräumig. Draußen zog die Landschaft vorbei die trotz Januarwetter ungewohnt grün war und alles wirkte so friedlich. Es kam mir vor, als hätte ich zwei verschiedene Leben geführt. Es dauerte noch gut zwei Wochen, bis ich mich in Deutschland wieder etwas besser eingelebt hatte, und ich war überrascht, wie einfach es nach einer Weile doch war, wieder in alte Gewohnheitsmuster zurückzufallen. Doch etwas hatte sich definitiv verändert und klingt auch bis heute noch nach.

Es ist die Dankbarkeit für den ‚Luxus‘ den mir mein Leben in Deutschland ermöglicht. Die frische Luft, die Möglichkeit das Wasser direkt aus der Leitung trinken zu können, ein eigenes Zimmer zu haben, die Abwesenheit des Gestanks und Lärms Mumbais, durchgehend Strom und warmes Wasser, die unsäglich große Auswahl an Lebensmitteln in den Geschäften. Es war und ist noch heute erholsam und überwältigend zugleich.

Ich hatte eine eindrückliche Zeit und habe unglaublich viel erlebt und gelernt. Auch wenn ich meinen Aufenthalt nicht direkt dazu nutzen konnte Daten für meine Forschungsarbeit zu sammeln, so habe ich dennoch vieles gelernt, was für meine Masterarbeit von unabdingbarem Gebrauch ist, besonders bezüglich der theoretischen Sichtweisen die mir helfen können, intellektuelle Behinderung in heutigen Prozessen der (inklusiven) humanitären Hilfe zu verstehen. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung während meines Praktikums hat zudem dazu geführt, dass ich tiefe Einblicke in das Leben und den Alltag dieser Menschen bekommen konnte und ihre Situation jetzt besser begreifen kann.

Das Vacasol Global Engagement Scholarship hat mich in all dem unterstützt und dafür gesorgt, dass ich dieses wundervolle Abenteuer in Indien voll und ganz genießen konnte, wofür ich mich nur von ganzem Herzen bedanken kann.

F.Ortmann - Bei der Kunsttherapie im Pratham Mulit Purpose Centre